Eine Aussenpolitik mit Rückgrat
Die USA erheben völlig ungerechtfertigt 39 Prozent Zoll auf die meisten Schweizer Güter—ähnlich willkürliche Fantasiezahlen fallen in den USA auf Einfuhren aus allen Länder der Welt an. Wie könnten sich liberale Demokratien wie die Schweiz positionieren, in einer Welt, in der die alte Führungsmacht zu einer grotesken Clownshow verkommen ist, die gleich im Dutzend Wort- und Vertragsbruch begeht?
Ein inkompetenter Clown als Captain für den folgenreichsten Umbau des internationalen Systems seit dem Kalten Krieg. Trump als Clowncaptain.
Als Ausgangspunkt sollten wir festhalten: Die US-Zölle widersprechen klar den Handelsregeln der WTO, die auf dem Prinzip der “Allgemeinen Meistbegünstigung” beruh(t)e, bereits verankert in GATT 1947 Art. 1 . Das Prinzip besagt, dass ein Land, das einem anderen Land einen Handelsvorteil gewährt (z.B. einen niedrigeren Zollsatz), diesen Vorteil allen anderen Ländern gewähren muss, die ebenfalls Mitglieder der WTO sind.
Wieso setze ich hier das imperfekte “t” in Klammern? Weil die USA die WTO seit Oktober 2018 weitgehend lahmlegen, indem sie die Richter für Handelsdispute im “Appellate Body” blockieren—eine Politik, die nota bene vom Demokraten Joe Biden weitergeführt wurde. Aktuell verweigern die USA gar ihre Beitragszahlungen zum Budget der WTO für die Jahre 2024 und 2025. (Die EU, China und viele andere Länder haben darauf reagiert, indem sie eine Art Klon des “Appellate Body” an der WTO anrufen—namens MPIA—, solange der “Appellate Body” nicht funktioniert.)
Nüchtern betrachtet ist der unausweichliche Schluss: Die USA sind bis auf Weiteres kein verlässlicher Partner mehr —und wir können das nicht beeinflussen. Dabei ist die USA nicht irgendein Staat, der sich von der liberalen Weltordnung abwendet, sondern die Weltmacht, die diese Ordnung zu grossen Teilen geschaffen, vorangetrieben und verteidigt hat. Das kam gerade uns Europäern zugute—allen voran der Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg.
Die USA verlieren ihre Vormachtstellung
Die Unvernunft der USA wird zuweilen als Begleiterscheinung ihres relativen Machtverlustes gesehen. Ich teile diese Einschätzung nicht, aber für die Schweizer Aussenpolitik ist der relative Gewichtsverlust der USA und des Westens generell durchaus von Bedeutung, weswegen ich das kurz ausführe:
Dass die USA ihre wirtschaftliche Dominanz verlieren würden, wurde in unzähligen Artikeln seit Jahrzehnten prophezeit. Die Grundüberlegung ist relativ simpel: Die Wirtschaftskraft ärmerer Länder wächst tendenziell schneller als die der Technologieführer—ganz einfach weil kopieren einfacher als erfinden ist. Daher würde man über längere Zeit eine Konvergenz erwarten, bei der der relative Anteil der USA und des Westens generell unweigerlich sinkt. So ist der Anteil der USA an der Weltwirtschaft gesunden—von Kriegsbedingten 50% zum Ende der Weltkriege auf 40% in den 1960er Jahren auf heute etwa 26%, während China von praktisch null auf 17% aufgeholt hat.
Wirtschaftlich sind diese Analysen sicherlich treffend. Vermutlich wird dasselbe auch militärisch eintreffen. Einige Gedanken hierzu:
- Militärmacht hängt stark von der Wirtschaftskraft ab, angefangen bei der Finanzierung bis hin zur Entwicklung neuer Waffensysteme. Allerdings ist diese Beziehung vom Entwicklungspfad eines Staates abhängig: Russland und Nordkorea z.B. haben eine kümmerliche Wirtschaftsleistung, aber Putin und Kim Jong-un opfern den Wohlstand der Bevölkerung, um eine disproportionale Militärmacht zu finanzieren. Europa und Japan hingegen sind wirtschaftliche Riesen, aber militärisch vergleichsweise schwach. China wird je länger je mehr beides auf sich vereinen.1
- Der Anteil des US-Militärbudgets an den weltweiten Militärausgaben ist merklich gesunken. Bemerkenswert ist vor allem die Entwicklung seit dem Ukrainekrieg 2014: Die USA haben ihre Militärausgaben zwar erhöht, aber der Rest der Welt hat noch viel mehr zugelegt—was zu einem relativen Rückgang des US-Anteils geführt hat. Dies wird sicherlich über die Zeit zu einem relativen Machtverlust der USA führen, der sich wahrscheinlich zunächst in regionalen Konflikten zeigen wird, bei denen die USA ihre globale Reichweite nur noch punktuell wahrnehmen werden können.
US-Militärausgaben: Weltanteil vs. absolute Ausgaben (1988-2024)
Die Divergenz zwischen Ausgabenniveau und globaler Dominanz
Diese Makro-Entwicklungen sind mitnichten überraschend. Die grosse Frage war jeher, wie die USA auf diesen Rückgang reagieren würden. Wer wird am Steuer sitzen, wenn die Kraft nicht mehr ausreicht, die Welt allein zu dirigieren?
In einer stabilen Ordnung sollte keine Nation “indispensabel” sein
Das Hauptproblem liegt meines Erachtens darin, dass sich die USA seit jeher als die “indispensable nation” sieht, die “unersetzbare Nation”, die Heilsbringer der freien Welt. Diese Ideologie drückte sich in den von ihr geschaffenen Institutionen aus—und machte sie dadurch instabil.
Nehmen wir das Währungssystem Bretton Woods nach dem Zweiten Weltkrieg als Beispiel: Die USA haben da bereits den Fehler begangen, sich selbst als unersetzliche Grösse ins Zentrum eines eigentlich sinnvollen Regimes zu setzen. Das Währungssystem machte den US-Dollar zur einzigen Reservewährung, die direkt an Gold gekoppelt war (35 Dollar pro Unze), während alle anderen Währungen an den Dollar gekoppelt waren.
Dies schuf das berühmte “Triffin-Dilemma”: Als das System gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entworfen wurde, machten die USA kriegsbedingt überhöhte 50% der Weltwirtschaft aus, wie oben erläutert. Nach dem Krieg wuchsen die Volkswirtschaften der zerstörten Länder aber wieder rasant. Die USA mussten folglich immer mehr Dollar für den expandierenden Welthandel bereitstellen und die Goldkonvertibilität garantieren—während ihr relativer Anteil an der Weltwirtschaft zwangsläufig schrumpfte. Das “Triffin-Dilemma” besagte, dass dies ein geldpolitisch unmöglicher Spagat war: Entweder stellte man “zu viele” Dollars bereit und untergrub das Vertrauen in die Golddeckung, oder man beschränkte die Dollarversorgung und würgte den Welthandel ab. Der Rest ist Geschichte: Richard Nixon entschied sich 1971 dazu, die Goldkonvertibilität aufzugeben. Die USA wählten die Erhaltung ihrer geldpolitischen Souveränität über die Systemstabilität. (Und als kleine Randbemerkung: Jede andere Demokratie hätte dasselbe getan.)
John Maynard Keynes sah diese Art von Problem früh voraus und hatte bereits 1944 eine elegantere Lösung vorgeschlagen: Den “Bancor”—eine supranationale Pseudo-Währung, die von einer internationalen Clearing Union verwaltet würde. Langfristig sollte der Bancor auf einem Korb der wichtigsten Handelswährungen basieren, gewichtet nach Handelsvolumen oder Wirtschaftsleistung, und sich graduell anpassen. Kein einzelnes Land hätte dadurch strukturelle Vorteile gehabt, und das System wäre stabiler gewesen. Aber die USA wollten nach dem Zweiten Weltkrieg den Dollar als Weltleitwährung durchboxen.
Ein Art “Bancor” gibt es übrigens tatsächlich. Die Special Drawing Rights (SDR) im Internationalen Währungsfonds IMF. Ihr Wert basiert auf einem Währungskorb von Dollar, Euro, Yen, Pfund, und seit 2016 auch Renminbi. Ein Bretton-Woods-System auf der Basis eines Bancor oder der SDRs hätte die USA wohl gar nicht erst ins “Triffin-Dilemma” gebracht. Allerdings: Ob es überhaupt einen Staat gibt, die bei einer so extremen Machtfülle, wie die der US-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg, eine derart erleuchtete Zurückhaltung walten liesse, mag man bezweifeln. Realisten zitieren da gern den Athener Gesandten im Melier-Dialog bei Thukydides 5:89 (sehr frei und sinngemäss übersetzt): “Gerechtigkeit ist nur zwischen Gleichgestellten von Bedeutung. Ansonsten tun die Starken, was sie wollen, und die Schwachen ertragen, was sie müssen.”
Multipolar vs multilateral
Das Beispiel von Bretton Woods zeigt das ewige Verhalten der Mächten in der Politik, das wohl Jean-Jacques Rousseau am schönsten beschrieb:
“Der Stärkste ist niemals stark genug, um immer Herr zu bleiben, wenn er nicht Macht in Recht und Gehorsam in Pflicht verwandelt.”
— Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag (Du Contrat Social), Buch I, Kapitel 3
(Original franz.: “Le plus fort n’est jamais assez fort pour être toujours le maître, s’il ne transforme la force en droit et l’obéissance en devoir.”)
Und so haben sich Herrscher und Führungsmächte seit jeher bemüht, ihre Vormachtstellung im Zentrum durch die Schaffung von Regeln und Institutionen zu legitimieren und zu festigen. Und eben weil sie sich als unersetzliche Grösse ins Zentrum setzen, brachen diese Regeln und Institutionen früher oder später zusammen.
Der einzige Gegenentwurf zur Machtpolitik, der sich weltweit in Dutzenden Staaten durchgesetzt hat und erfolgreich praktiziert wird, ist die Herrschaft des Rechts. Es ist einer der philosophischen Errungenschaften der Aufklärung, dass die Machtpolitik der Herrscher durch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ersetzt werden sollte. Es wurde erkannt, dass das Problem der Tyrannei nicht durch eine “gute” Tyrannei gelöst werden kann. Anstatt vermeintlich “gute” Fürsten, Könige, Kaiser, Diktatoren, Philosophen oder Präsidenten zu suchen und auf einen Thron zu hieven, zerstören wir den Thron selbst! Wir unterwerfen alle, auch die Mächtigsten, dem Gesetz—anstatt uns von ihrer Gnade abhängig zu machen. Dank diesem Prinzip konnten wir liberale Rechtsstaaten, Stabilität und Wohlstand schaffen.2
Wieso so und nicht anders? Weil Macht korrumpiert.
“Eine ewige Erfahrung lehrt, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stösst.”
— Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (De l’esprit des lois), XI, 4
(Original franz.: “C’est une expérience éternelle que tout homme qui a du pouvoir est porté à en abuser ; il va jusqu’à ce qu’il trouve des limites.”)
Und auch wenn eine Person noch so überzeugt sein mag von der Tugendhaftigkeit ihrer selbst oder eines charismatischen Anführers, so sollte sie doch der Gedanke zur Besinnung bringen, dass man nicht für einen Menschen alleine einen Thron bauen kann. Der Thron überdauert den Menschen, der auf ihm sitzt. Und selbst wenn diese eine Person absolut unkorrumpierbar wäre—was ich bezweifle—, kann niemand voraussehen, wer als nächstes auf diesem Thron sitzen wird. Kurzum: Throne zu bauen, ist fahrlässig.
Die Gewaltenteilung ist eine logische Erweiterung dieser Idee. Denn der Staat muss drei grundlegende Aufgaben erfüllen: Gesetze schaffen, Gesetze umsetzen, und Gesetze durchsetzen. Montesquieu erkannte, dass keine dieser Aufgaben in einer Hand liegen darf, denn sonst gibt es keine Freiheit mehr. Die Legislative schafft die Gesetze, die Exekutive setzt sie um, und die Judikative sorgt dafür, dass beide sich an die Gesetze halten. Jede Gewalt kontrolliert die anderen und begrenzt ihre Macht. Nur so kann verhindert werden, dass eine Gewalt die anderen dominiert und zur Tyrannei wird.
Die Logik ist bestechend einfach: Nur Macht kann Macht begrenzen. Wenn derselbe Herrscher sowohl Gesetze erlassen als auch deren Anwendung kontrollieren könnte, wäre er de facto nicht mehr an die Gesetze gebunden. Er könnte sich selbst Immunität verleihen, Kritiker verurteilen lassen, oder Gesetze nach Belieben auslegen. Die Trennung der Gewalten zwingt die Machthaber, sich gegenseitig zu kontrollieren — nicht aus Güte, sondern aus institutionellem Eigeninteresse.
Eben dieses zentrale Element unterscheidet heutzutage jene, die für eine multilaterale Weltordnung eintreten, von jenen, die eine multipolare Weltordnung anstreben.
- Multilateralismus basiert auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und bedeutet, dass Staaten gemeinsam Regeln aushandeln, die von unabhängigen Rechtsinstitutionen durchgesetzt werden. Das Ziel ist eine stabile Ordnung, in der keine Nation unersetzlich ist. Beispiele hierfür sind die UNO, die EU, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die WTO, der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, und viele andere internationale Institutionen.
- Multipolarismus hingegen basiert auf Transaktionalismus und bedeutet, dass Grossmächte um Einfluss und Vorherrschaft konkurrieren. Innerhalb ihrer Einflusssphären setzen sie ihre eigenen Regeln durch, die von anderen Mächten nicht angefochten werden dürfen. Das Ziel ist die Maximierung der eigenen Macht, oft auf Kosten anderer. Es ist eine Welt der Machtpolitik, in der das Recht des Stärkeren uneingeschränkt gilt, wie zu Zeiten des bipolaren Kalten Krieges.
Finnlands Präsident Alexander Stubb hat diesen Unterschied kürzlich in einer Rede vor den Vereinten Nationen treffend beschrieben:
Eine besonders treffende Bemerkung Stubbs ist, dass Multipolarismus die Probleme der Welt nicht lösen kann. Nehmen wir an, wir lebten in einer multipolaren Weltordnung, in der die USA, China, Russland (und evtl. die EU) in ihren Einflusszonen jeweils ihre eigenen Regeln durchsetzen. Würde uns das der Lösung drängender Probleme näherbringen—Kriege, Flüchtlingsströme, Klimawandel, Pandemien, Armutsbekämpfung, KI-Sicherheit, Weltraumforschung, …? Wohl kaum. Im Gegenteil: Es würde die Zusammenarbeit erschweren und die Konflikte verschärfen.
Die Schweiz, viele Staaten Europas, und Kleinstaaten generell, haben ein überwältigendes Interesse an einer multilateralen Weltordnung, die auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit basiert. Die Hütung dieser Ordnung sollte ein zentrales Element unserer Aussenpolitik sein.
Kauern oder Rückgrat zeigen?
Aktuell überwiegen in der Schweiz die Zweifel an der eigenen Stärke: Die kleine Schweiz könne sich doch nicht mit den grossen USA anlegen. Grossmachtfantasien seien das. Wir müssten Trump geben, was er wolle, und ein gutes Angebot machen.
Dagegen würde ich erwidern: Brasiliens Zollrate? 50%! Indien? Es drohen ebenfalls 50%. China? Totales Chaos, aber aktuell bei rund 55% . Mit anderen Worten: Auch Grösse schützt vor Trumps Torheit nicht. Die Berechnung dieser Raten ist wahnwitzig, das Vorgehen der USA ist peinlich inkompetent, die Rechtfertigungen sind lachhaft—und all das ist keine Überraschung: Der Fisch stinkt nun mal vom Kopf.
Mit dieser Realität müssen wir uns nun irgendwie arrangieren. Auch wir haben grundsätzlich die Entscheidung zwischen Multipolarismus und Multilateralismus.
Multipolarismus: Wir sehen uns in der Rolle eines kleinen Vasallenstaates in der Einflusssphäre der USA. Wir fügen uns den Launen des Clowncaptains, der uns als “seinen” Hofstaat betrachtet. Wir akzeptieren, dass unsere Souveränität und Würde von einem inkompetenten Clown mit Füssen getreten wird. Wir machen bei der Charade mit, dass das alles “Verhandlungen” seien, und tun so, als ob wir da noch etwas zu sagen hätten. Wir schlucken den Schaden an unserer Wirtschaft, den Trump uns grundlos zugefügt hat. Wir schlucken seine Beleidigung unserer Bundespräsidentin. Wir suchen eine hübsch verpackte Schmiergeldzahlung, die für sein Ego gross genug ist, und verraten unsere eigene Identität. (Natürlich nennen wir das anders, ist ja klar, wir sind ja schliesslich die Schweiz.)
Multilateralismus: Wir erkennen an, dass die USA seit geraumer Zeit internationales Recht mit Füssen treten. Wir suchen nach Verbündeten, um eine robust multilaterale Ordnung zu erhalten und weiter zu entwickeln.
Im europäischen Umfeld werden wir da fündig: Die EU hat ebenfalls mit ungerechtfertigten US-Zöllen zu kämpfen, und viele andere Länder auch. Welche Länder konkret? Orientieren wir uns an den Unterstützern des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH)—der wenig überraschend von allen Grossmächten abgelehnt wird.
Wo immer nötig würden wir Integrität, Robustheit und Sanktionsgewalt der Institutionen stärker gewichten als Inklusivität. Wer Menschenrechte mit Füssen tritt, hat in dieser Gemeinschaft nichts zu suchen. Wer die vereinbarten Regeln bricht, wird sanktioniert oder ausgeschlossen. All dies würden wir tun, im Wissen, dass für uns als kleines Land verbindliche Regeln überlebenswichtig sind.
Wir würden auf funktionierenden Institutionen aufbauen, wie der WTO, dem IStGH, dem EFTA-Gerichtshof, dem Europarat, Teilen der UNO und der EU… Wir würden multilaterale Institutionen mit Biss stärken und reformieren. Wo nötig, würden wir neue Institutionen schaffen, die den heutigen Herausforderungen gerecht werden—wie etwa eine längst überfällige Koordination der Asyl- und Migrationspolitik in Europa, die das unmenschliche Chaos unserer Aussengrenzen beendet.
Wir würden Europa helfen, Russland militärisch die Stirn zu bieten—allem voran indem wir die Ukraine militärisch unterstützen. Die Koordination könnte zunächst weiter über die NATO laufen, aber würde sich mit wachsender Stärke und Selbstbewusstsein Europas zunehmend in eine eigenständige europäische Verteidigungsunion wandeln. Wir würden China mit einer wertebasierten Aussenpolitik begegnen, anstatt mit der Hoffnung, dass es uns mit dieser Diktatur diesmal nicht allzu schlimm treffen wird.
Kurzum: Wir würden unsere Souveränität und Würde verteidigen, indem wir uns weigern, uns vor inkompetenten Clowns und Autokraten erpressen zu lassen. Wir verteidigen unsere aufgeklärte Tradition, indem wir für eine multilaterale Weltordnung mit Rückgrat eintreten.
Und die Neutralität?
Die Schweizer Neutralität ist ein Instrument der Aussenpolitik, kein Selbstzweck. Ihre historische Begründung war stichhaltig: Als kleiner Staat inmitten mächtiger Nachbarn, die sich immer wieder bekriegten, war Neutralität eine rationale Geburtshilfe und Überlebensstrategie. Wenn Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien sich gegenseitig bekämpften, machte es für die Schweiz Sinn, keiner Seite beizutreten. Die Neutralität schützte uns davor, von den Machtkämpfen unserer grösseren Nachbarn zerfetzt zu werden.
Doch unsere Nachbarschaft hat sich verändert. Unsere Nachbarn sind heute alle Mitglieder der EU und der NATO. Sie bekämpfen sich nicht mehr – im Gegenteil, sie haben eine beispiellose Friedensordnung geschaffen, die auf den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der multilateralen Zusammenarbeit beruht. Was hat unsere Sicherheit geschützt? Von 1914 bis 1945, da bin ich einverstanden, die bewaffnete Neutralität.
Aber seit 1945? Selbstverständlich die europäische Friedensordnung. Der Machtkampf, vor dem uns die Neutralität einst schützte, existiert heute nicht. Stattdessen steht diese Friedensordnung selbst unter Bedrohung. Russland führt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. China bedroht Taiwan. Die USA unter Trump verraten ihre eigenen Verbündeten. In dieser neuen Konstellation dient die Neutralität nicht mehr dem Schutz vor den Machtkämpfen unserer Nachbarn. Ist die Neutralität die beste Art, die europäische Friedensordnung zu verteidigen, die auch uns Frieden und Wohlstand gebracht hat?
Es gibt meines Erachtens zwei gute Argumente dafür, die Neutralität beizubehalten:
- An der Neutralität haben wir grosse Teile unserer globalen Rolle aufgehängt: Die Schweiz ist eine Vermittlerin in internationalen Konflikten, ein Hort für Diplomatie und humanitäre Hilfe. Diese Rolle basiert auf dem Vertrauen, dass die Schweiz neutral ist und sich nicht in die Machtkämpfe anderer Länder einmischt. Auch wenn uns das selbst wenig bringt, riskieren wir, dieses Vertrauen zu verlieren und unsere globale Rolle zu schwächen.
- Wir können die Stabilität unserer Nachbarschaft nicht für sicher annehmen: Die EU und die NATO sind starke Institutionen, aber sie sind nicht unverwundbar. Wenn die EU zerfällt oder die NATO geschwächt wird, könnten wir wieder in eine Situation geraten, in der wir von den Machtkämpfen unserer Nachbarn bedroht werden. Die bewaffnete Neutralität könnte uns in einem solchen Horrorszenario wieder schützen.
Ich habe noch keine fixe Meinung dazu, ob diese Argumente stark genug sind, um die Neutralität zu rechtfertigen. Aber ich bin überzeugt, dass wir die Neutralität nicht als Selbstzweck betrachten dürfen. Die Neutralität ist kein Freifahrtschein für moralische Beliebigkeit. Sie ist kein Grund, sich von der Welt abzuschotten. Und sie ist kein heiliges Prinzip, das über allen anderen steht. Wenn die Neutralität uns daran hindert, für die Werte einzustehen, die unsere Zivilisation ausmachen – Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie – dann ist sie nicht mehr ein Instrument zum Schutz der Schweiz, sondern ein Hindernis für unsere moralische und politische Integrität.