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EuropeIst unsere Würde 1% des BIPs wert? Eckpfeiler einer neuen Schweizer Aussenpolitik

Eckpfeiler einer neuen Schweizer Aussenpolitik

Die USA erheben völlig ungerechtfertigt 39 Prozent Zoll auf die meisten Schweizer Güter - ähnlich willkürliche Fantasiezahlen fallen in den USA auf Einfuhren aus allen Länder der Welt an. Wie könnten sich liberale Demokratien wie die Schweiz positionieren, in einer Welt, in der die alte Führungsmacht zu einer grotesken Clownshow verkommen ist, die gleich im Dutzend Wort- und Vertragsbruch begeht?

Als Ausgangspunkt sollten wir festhalten: Ganz allgemein widersprechen die US-Zölle klar den Handelsregeln der WTO, die auf dem Prinzip der Nichtdiskriminierung beruh(t)en (GATT 1994 Art. 1). Wieso das imperfekte “t” in Klammern? Weil die USA die WTO seit Oktober 2018 weitgehend lahmlegen, indem sie die Richter für Handelsdispute im “Appellate Body” blockieren - eine Politik, die - nota bene - vom Demokraten Joe Biden weitergeführt wurde. Aktuell verweigern die USA gar ihre Beitragszahlungen zum Budget der WTO für die Jahre 2024 und 2025. (Die EU, China und viele andere Länder haben darauf reagiert, indem sie eine Art Klon des “Appellate Body” an der WTO anrufen - namens MPIA - , solange der “Appellate Body” nicht funktioniert.)

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Nüchtern betrachtet ist der unausweichliche Schluss: Insofern Handel mit den USA von der US-Regierung abhängt, ist die USA kein verlässlicher Handelspartner mehr. Dabei ist die USA nicht irgendein Staat, der sich von der liberalen Weltordnung abwendet, sondern die Weltmacht, die diese Ordnung zu grossen Teilen geschaffen, vorangetrieben und verteidigt hat. Für viele Aspekte dieser US-Aussenpolitik sollten wir Europäer dankbar sein - allen voran dem Gründungsakt: Der Intervention Amerikas in den Zweiten Weltkrieg.

Die Unvernunft der USA wird zuweilen als Begleiterscheinung ihres relativen Machtverlustes gesehen. Dass die USA ihre wirtschaftliche Dominanz verlieren würden, wurde in unzähligen Artikeln seit Jahrzehnten prophezeit. Die Grundüberlegung ist relativ simpel: Die Wirtschaftskraft von Nachzüglern wächst tendenziell schneller als die der Technologieführer - ganz einfach weil kopieren einfach als erfinden ist. Dies führt über längere Zeit zu einer Konvergenz, bei der der relative Anteil der USA unweigerlich sinkt. So ist der Anteil der USA an der Weltwirtschaft von Kriegsbedingten 50% zum Ende der Weltkriege auf 40% in den 1960er Jahren auf heute etwa 26% gesunken, während China von praktisch null auf 17% aufgeholt hat. Die USA verlieren auch in strategischen Technologien ihre Monopolstellung - von der Halbleiterproduktion über 5G-Infrastruktur bis hin zu erneuerbaren Energien herrscht reger Wettbewerb mit asiatischen Unternehmen. In der künstlichen Intelligenz sind US-Unternehmen führend, aber mitnichten in einer Monopolstellung.

Wirtschaftlich sind diese Analyse sicherlich treffend. Inwiefern sie auch militärisch zutreffen, wird sich zeigen. Einige Gedanken hierzu:

  • Der Anteil des US-Militärbudgets an den weltweiten Militärausgaben ist (noch) nicht merklich gesunken.

  • Militärmacht hängt stark von der Wirtschaftskraft ab, angefangen bei der Finanzierung bis hin zur Entwicklung neuer Waffensysteme. Allerdings ist diese Beziehung nicht universell gleich: Russland z.B. hat eine kümmerliche Wirtschaftsleistung, aber Putin opfert den Wohlstand der Bevölkerung, um eine disproportionale Militärmacht zu finanzieren.

  • Selbst wenn sich die Militär

  • Militärisch ist die unipolare Welt der 1990er Jahre Geschichte: Russland und China vermögen zumindest regional die amerikanische Überlegenheit in Frage zu stellen und leben ihre imperialistischen Ambitionen gegen Nachbarstaaten aus.

  • Selbst der Dollar als Weltleitwährung steht unter Druck - von chinesischen Digitalwährungsexperimenten bis hin zu alternativen Zahlungssystemen, die US-Sanktionen umgehen. Für die führenden Wirtschaften ist Wachstum ungemein schwieriger, weil man nicht weiss, wohin die Reise geht, als für Länder, die sich frisch industrialisieren.

Man kann die Unvernunft der USA als Begleiterscheinung ihres relativen Machtverlustes sehen:

Dass die USA ihre Vormachtstellung verlieren werden, wurde in unzähligen Artikeln seit Jahrzehnten prophezeit und analysiert. Die Grundüberlegung war stets simpel: Der relative Anteil der USA wird in einer wachsenden Welt unweigerlich sinken. Für die führenden Wirtschaften ist Wachstum ungemein schwieriger, weil man nicht weiss, wohin die Reise geht, als für Länder, die sich frisch industrialisieren.

Die grosse Frage war, wie die USA auf diesen Rückgang reagieren werden. Wer wird am Steuer sitzen, wenn die Kraft nicht mehr ausreicht, die Welt allein zu dirigieren?

In einer stabilen Ordnung sollte keine Nation “indispensabel” sein

Das Hauptproblem liegt meines Erachtens darin, dass sich die USA seit jeher als die “indispensable nation” sieht, die “unersetzbare Nation”, die Heilsbringer der freien Welt. Diese Ideologie drückte sich in den von ihr geschaffenen Institutionen aus - und machte sie dadurch instabil. Ich illustriere nun anhand eines Beispiels die Problematik: das Währungs

Als Beispiel führen wir uns das Währungssystem Bretton Woods nach dem Zweiten Weltkrieg vor Augen: Die USA haben da bereits den Fehler begangen, sich selbst als unersetzliche Grösse ins Zentrum eines eigentlich sinnvollen Regimes zu setzen. Das Währungssystem machte den US-Dollar zur einzigen Reservewährung, die direkt an Gold gekoppelt war (35 Dollar pro Unze), während alle anderen Währungen an den Dollar gekoppelt waren.

Dies schuf das berühmte “Triffin-Dilemma”: Als das System gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entworfen wurde, machten die USA kriegsbedingt überhöhte 50% der Weltwirtschaft aus. Nach dem Krieg wuchsen die Volkswirtschaften der zerstörten Länder aber wieder rasant. Die USA mussten folglich immer mehr Dollars für den expandierenden Welthandel bereitstellen und die Goldkonvertibilität garantieren - während ihr relativer Anteil an der Weltwirtschaft zwangsläufig schrumpfte. Das “Triffin-Dilemma” besagte, dass dies ein mathematisch unmöglicher Spagat war: Entweder stellte man “zu viele” Dollars bereit und untergrub das Vertrauen in die Golddeckung, oder man beschränkte die Dollarversorgung und würgte den Welthandel ab. Der Rest ist Geschichte: Richard Nixon entschied sich 1971 dazu, die Goldkonvertibilität aufzugeben. Die USA wählten die Erhaltung ihrer geldpolitischen Souveränität über die Systemstabilität.

John Maynard Keynes sah diese Art von Problem früh voraus und hatte bereits 1944 eine elegantere Lösung vorgeschlagen: Den “Bancor” - eine supranationale Pseudo-Währung quasi, die von einer internationalen Clearing Union verwaltet würde. Langfristig sollte der Bancor auf einem Korb der wichtigsten Handelswährungen basieren, gewichtet nach Handelsvolumen oder Wirtschaftsleistung, und sich graduell anpassen. Kein einzelnes Land hätte dadurch strukturelle Vorteile gehabt, und das System wäre stabiler gewesen. Aber die USA wollten nach dem Zweiten Weltkrieg den Dollar als Weltleitwährung durchboxen.

Ein Art “Bancor” gibt es übrigens tatsächlich. Die Special Drawing Rights (SDR) im Internationalen Währungsfonds IMF. Ihr Wert basiert auf einem Währungskorb von Dollar, Euro, Yen, Pfund, und seit 2016 auch Renminbi. Ein Bretton-Woods-System auf der Basis eines Bancor oder der SDRs hätte die USA wohl gar nicht erst ins “Triffin-Dilemma” gebracht. Allerdings: Ob es überhaupt eine Regierung gibt, die bei einer so extremen Machtfülle, wie die der US-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg, eine solche Zurückhaltung walten liesse, mag man bezweifeln. Realisten zitieren da gern den Athener Gesandten im Melier-Dialog bei Thukydides 5:89 (sehr frei und sinngemäss übersetzt): “Gerechtigkeit ist nur zwischen Gleichgestellten von Bedeutung. Ansonsten tun die Starken, was sie wollen, und die Schwachen ertragen, was sie müssen.”

Was die Schweiz und andere europäische Länder beherzigen sollten

Um da gescheite Lehren zu ziehen, sollten wir uns an Max Webers Machttypologie erinnern: Er unterschied zwischen blosser Macht (der Fähigkeit, den eigenen Willen durchzusetzen) und Autorität (legitimer Herrschaft, die auf Anerkennung beruht). Wahre Führung entsteht erst durch die Kombination von beidem. Legitimität meint dabei rein empirisch, ob die Untergebenen an die Legitimität der Mächtigen glauben. Es ist also keine moralische Bewertung.

Herrschaft=Macht+Legitimita¨t.\text{Herrschaft} = \text{Macht} + \text{Legitimität}.

Mit diesem Begriff der Herrschaft machte Weber drei Idealtypen von Herrschaft aus (die in der Realität fast immer vermischt auftreten):

  • Charismatische Herrschaft: Napoleon, Gandhi, Hitler
  • Traditionelle Herrschaft: Könige, Stammesführer, Patriarchen
  • Legal-rationale Herrschaft: Demokratische Präsidenten, Richter, Beamte

Eine weitsichtige US-Regierung hätte aus dem Niedergang von Bretton Woods die Lehre ziehen können, dass selbst die mächtigste Nation sich rechtzeitig aus dem “unersetzbaren” Zentrum lösen muss, um ein nachhaltiges legal-rationales Regime zu schaffen, das die eigenen Interessen und Werte langfristig wahrt. Gerade in der Machtfülle der 1990er Jahre hätte es möglicherweise gelingen können, die Vereinigten Nationen und speziell den Sicherheitsrat zu reformieren. Gewiss wäre das nicht einfach gewesen – China und Russland hätten auch damals Widerstand geleistet, und die USA hätten Vetorechte hätten aufgeben müssen. Aber es wäre zweifellos einfacher gewesen als heute, wo beide Rivalen wieder erstarkt sind.

Passivität der Europäer

Stattdessen entschieden sich die USA schon ab dem Kosovo-Krieg 1999 für Alleingänge und die Rolle des Weltpolizisten, verstärkt nach 9/11 durch die Bush-Doktrin der Präemption. Wie beim Triffin-Dilemma schuf diese zentrale Position strukturelle Widersprüche: Die USA mussten gleichzeitig globaler Regelwächter und nationale Interessenvertretung sein – ein inhärent instabiles Arrangement.

Der Legitimitätsverlust kulminierte mit der zweiten Irakinvasion 2003, als die USA in den Augen eines Grossteils der Welt ihre Glaubwürdigkeit als Führungsnation einer Ordnung verspielten, deren Regeln sie selbst nicht einhielten. Selbst traditionelle Verbündete wie Deutschland und Frankreich verweigerten die Unterstützung. Die USA verweilten unersetzbar in der Mitte, anstatt das bereits geschaffene legal-rationale internationale System zu reformieren und zu erweitern – und zahlen heute den Preis für diese strategische Kurzsichtigkeit.

Kauern weckt Begehren

Aktuell überwiegen in der Schweiz die Zweifel an der eigenen Stärke: Die kleine Schweiz könne sich doch nicht mit den grossen USA anlegen. Grossmachtfantasien seien das. Wir müssten Trump geben, was er wolle, und ein gutes Angebot machen.

Dagegen würde ich erwidern: Brasiliens Zollrate? 50%! Indien? Es drohen ebenfalls 50%. China? Totales Chaos, aber aktuell bei rund 55%. Mit anderen Worten: Auch Grösse schützt vor Trumps Torheit nicht. Die Berechnung dieser Raten ist wahnwitzig, das Vorgehen der USA ist peinlich inkompetent, die Rechtfertigungen sind lachhaft - und all das ist keine Überraschung: Der Fisch stinkt nun mal vom Kopf.

Mit dieser Realität müssen wir uns nun irgendwie arrangieren. Ich sehe grundsätzlich drei Arten, damit umzugehen: Feigheit, Durchwursteln, Rückgrat.

Feigheit: Wir könnten bei der Charade mitmachen und so tun, als wären das normale Verhandlungen. Wir schlucken den Schaden an unserer Wirtschaft, den Trump uns grundlos zugefügt hat. Wir schlucken seine Beleidigung unserer Bundespräsidentin. Wir suchen eine hübsch verpackte Schmiergeldzahlung, die für sein Ego gross genug ist, und verraten unsere eigene Identität. (Natürlich nennen wir das anders, ist ja klar.)

Durchwursteln: Dieser Weg scheint der Bundesrat bislang einzuschlagen.

Karin Keller-Sutter und Guy Parmelin haben für ihr Engagement unsere Unterstützung verdient.

Vor den amerikanischen Unvernunft zu kauern, hätte Konsequenzen:

  • Wir verraten uns selbst. Man stelle sich vor, wir besänftigten Trumps Narzissmus mit trump-clowncaptain.pngEin inkompetenter Clown als Captain für den folgenreichsten Umbau des internationalen Systems seit dem Kalten Krieg. Trump als Clowncaptain.
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